Florian Fricke: Sie bauen an der Form

Florian Fricke
Sie bauen an der Form

Über den Umgang mit dem Laut, dem Rhythmus und dem Klang
im tibetischen Buddhismus und über die Entsprechung
von Himmel und Erde

– Aufzeichnungen während einer Wanderung in den Hohen Bergen des Himalaya –

Florian Fricke ( 1944 -2001) war Komponist und Schüler von Cornelis Veening. Neben seinen musikalischen Veröffentlichungen als Leiter der Musikgruppe “Popol Vuh” (bekannt aus den Filmmusiken zu Werner Herzogs Filmen) entwickelte er in den 90er Jahren, angeregt durch eine  Reise in den Himalaya und durch seine persönliche Atemweg-Erfahrungen,  eine eigene Atem – Ton-Arbeit mit Konsonanten und Vokalen, die er “das Alphabet des Körpers” nannte.

Berührt von der Harmonie der höchsten Wildnis dieser Erde, auf einer Wanderung im östlichen Himalaya, war mir Teilhard de Chardins Essay über die „Geistige Potenz der Materie“ gegenwärtig.

„Tauche in sie (die Materie) ein, dort wo sie am gewaltigsten und am tiefsten ist! Ringe in ihrem Strom und trinke ihre Flut. Sie hat ehedem dein Unbewusstes gewiegt – sie wird dich zu Gott tragen.“Was für eine Kühnheit liegt in diesen Worten, die dem französischen Pater so viel Unmut mit seiner Obrigkeit eintrugen..

Auch die Buddhisten der hohen Berge kennen ein antithetisches Verhalten gegenüber der Materie. Sie lieben sie und gleichzeitig versuchen sie, ihr nicht anzuhängen, sie verehren sie als ein Erscheinungsbild der Grossen Mutter und bauen an ihrer Form. Sie meißeln sie in jeden Stein, der etwas Besonderes aufweist, die heiligen Silben des OM, die in ihrer Dreiheit AUM unserer christlichen Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiliger Geist entsprechen. Sie vermessen die Winkel zu den Gipfeln der Berge mit Mani Chorten, das sind aus einzelnen Steinen in die Höhe gebaute Meditationsbilder, die in abstrakten Darstellungen, auf Zahlenwerten beruhend, kosmische Hierarchien abbilden und den Weg zum vollendeten Menschen beschreiben, den Rückweg zur Eins. Oder sie schreiben das Mantra (Gebet) des großen Worts tausendfach auf die gewaltigen Trommeln, die von den Bächen ohne Unterlass gedreht werden und bei jedem Umlauf ein Glöckchen auslösen.

Selbst im unbewohnten Dschungelbereich des Berges, in dem die Bären hausen, wehen weiße Stoff-Fetzen, bedruckt mit den heiligen Silben, wehen die Gebetsfahnen. Sie haben die Landschaft des Himalayas mit dem großen Wort und dem Mantra OM vermessen. So ist eine gewaltige Landschaftsarchitektur entstanden, die den einen Gedanken ausdrückt, die Materie vom Dichtesten bis zum Feinsten mit der heiligen Schwingung zu durchdringen und die Schwingung des Gewordenen an die Schwingung des Erzeugenden anzugleichen. Nicht durch Negation, nicht durch Unterdrückung: durch Entsprechung wird die Erde in den Himmel gehoben.

Die Strukturen aller frühen Kulturschöpfungen – der Zahl und der Architektur, der Laute und der Tonsysteme – stellen Entsprechungen dar zu den für wahr angenommenen kosmischen Gesetzmäßigkeiten, zu der Hierarchie der Prinzipien, der Ideen. Insofern waren die Künste heilig, als sie Magneten darstellten durch das Gesetz der Entsprechung, das in ihnen wirkte.

Eine Formel der Entsprechung

Die Laute und Rhythmen eines Mantras beinhalten in einem strukturellen Gleichnis kosmische Prinzipien, die Elementarkräfte der Natur. Intonation oder das Sichtbar – Machen der einzelnen Laute bewirken das Zusammenschwingen von Mikrokosmos und Makrokosmos. So wird das Sagen eines Mantras zu einem Vorgang der Integration. Für einen Buddhisten ist das selbstverständlich, insofern ist er ein Tantriker. Wir Europäer empfinden diese Art zu denken zunächst eher magisch – formelhaft, doch ohne eine Hingabe an das Experiment können wir darüber wenig aussagen. Eine andere Struktur ist uns geläufiger: die Quantität der Anwendung eines Gebets. So sprachen die Hesychasten der Ostkirche dem Menschen die souveräne Möglichkeit ab, zu höheren Erkenntnissen zu gelangen, außer durch die Quantität seines Strebens: der häufigen, ja immerwährenden Wiederholung des Herzensgebets.

Ich habe bei den einfachen und einfachsten Bewohnern der Berge des östlichen Himalaya einen sehr innigen und unentwegten Umgang mit dem großen Mantra OM MANI PADME HUM beobachten können. Sie sagen das Mantra den ganzen Tag über. Selbst in der Nacht, wenn sie aus dem Schlaf aufschrecken, kommt es über ihre Lippen.

Es ist das immerwährende Herzensgebet des buddhistischen Himalaya. Das OM habe ich bei ihnen gehört als ein großes Seufzen oder wie man mit einer Katze spricht oder ein kleines Kind tröstet: wie einen Ausruf und ein Umfangen der zweiten und dritten Silbe MA-NI, womit sie sich den innewohnenden Buddha, dem Hohen Selbst, dem Ich des Seins zuwenden, und mit der vierten und fünften Silbe PADME – sie sprechen es Pämä aus- um die Entfaltung ihres Herzens, HUM, bitten. Sie sagen hung, om mani pämä hung. Diese sechs Silben wiederholen sie auf einer Tonhöhe in ihrem typisch östlichen Sprechgesang, in dem einzelne Silben aus der Grundschwingung heraus in die Terz oder Quarte springen und so eine Punktierung in den schwingenden Rhythmus bringen. Dieser ist von den sechs Silben bestimmt und sieht eine gleiche Länge für jede Silbe vor.

Bei jedem neuen Umlauf des Mantras – sie sagen es auch oft während des Einatmens – treten andere Silben aus der Grundschwingung hervor. So bilden sich Kurven in dem einem Ton, in dem das Mantra angestimmt wird, wie im Schwingen einer Glocke, die neue Anstöße erhält. Das Erklingen des Mantras ist vergleichbar einem schwingendem Kreis.

Das Erkennen eines Mantras hängt von dem Grad der Wahrhaftigkeit im Umgang mit ihm ab, ebenso wie von der Qualität seiner Anwendung

Ein Mantra ist eine Formel der Entsprechung, und doch ist der Umgang mit einem Mantra nicht methodisch und das Sagen eines Mantras ist ein schöpferisches Kennen – Lernen und Geschehen lassen, wobei das Mantra sich selbst erklärt und das individuell Richtige auf harmonische Weise bewirkt.

Man könnte auch sagen: das Erkennen eines Mantras hängt von dem Grad der Wahrhaftigkeit des Umgangs mit ihm ab, ebenso wie von der Qualität seiner Anwendung. Seine Jahrhunderte alte mündliche und schriftliche Überlieferung und der ebenso lange kulturelle Gebrauch, und vor allen Dingen die jahrelange Durchdringung des eigenen tägliche Lebens mit dem Mantra führen dazu, dass das Mantra schließlich in der richtigen Tonhöhe und Qualität angestimmt werden kann. Der Mensch und das Mantra sind sich dann so vertraut, dass er aus seiner schöpferischen Mitte das Mantra so anzustimmen vermag, dass durch das Erklingen der ganze Mensch erfasst wird und dies zu (s)einem Gebet wird mit dem er eintritt in den kosmischen Gesamtakkord.

Die Läuterung des Hauses durch den Gruppengesang

Am 13 Tag einer Wanderung im Himalaya-Gebirge kam ich in ein düsteres Dorf. Hinter den Häusern im Fels, in einer Felsnische standen die Reste eines ausgebrannten Klosters. Der Ort hatte etwas Verwunschenes an sich, und ich klopfte bei einem schlechten Haus an. Die Eheleute hatten Streit, das Kind tanzte und schrie. Als es dunkel wurde, verließ ich das Haus. Ich schlich mich davon und suchte mir einen Weg durch die Nacht: zu einem Bach hinunter, den ich auf zwei Holzbalken überquerte. Ich ging den Hang hoch und fand nach einer Weile ein Haus, in dem ein Licht war. Ich rief, und eine alte Frau klappte das Holzfenster hoch und zeigte zur Eingangstür. Ich hatte mir die typische Architektur der Häuser dieser Gegend eingeprägt und hatte nur geringe Schwierigkeiten, im Dunkeln den Weg zwischen den Kühen und Hühnern hindurch, die Treppe hinauf in den Wohnraum des Hauses zu finden. Mir war wie das Betreten des Weihnachtszimmers oder einer Zauberhöhle. Alles war in einer immateriellen Weise erleuchtet und voll unfassbarer Behaglichkeit. Ein paar alte Frauen saßen am Feuer herum, sie kochten eine Suppe, ein uralter Mönch saß bei ihnen und schwatzte.

Aus dem Nebenzimmer kam ein tiefes Gemurmel herüber, unterbrochen von fröhlichem Lachen und angeregten Stimmen. Es kam von einer Gruppe von Lamas, die sich im Andachtsraum bei der „Läuterung des Hauses“ versammelt hatten.

Sie saßen in der Form eines Hufeisens zu dem Altar mit den drei Buddhas aus Bronze, die Bronze -schalen gefüllt mit Wasser und den vielen anderen magischen Himmelsleitern einer zeremoniellen Hinwendung. Dem Altar gegenüber saßen die Hauptsänger, die immer als erste und mit einer großen Natürlichkeit die tiefen Gesänge intonierten und die Rhythmik vorgaben. An der Längsseite des Raumes saßen sich die Instrumentalisten – drei auf jeder Seite – gegenüber. Auf der linken Seite saßen die Percussionisten. Eine große Trommel, das Becken, die Glocke und eine kleine schwirrende Trommelwaren ihre Instrumente. Auf der rechten Seite saßen die Bläser, Eigenbrödler auch hier, wie überall auf der Erde. Mit einem seltsam verzückten, oft auch albernen Gesicht. Sie waren ebenso Sänger der Gruppe, nur greifen sie, wenn sie das Ende des Gruppengesangs spüren, zu ihren oboenähnlichen Hörnern und intonieren den Grundton der Schwingung des vorangegangenen Gesangs.

Drei erfahrene tibetische Mönche und sechs Lamas der umliegenden Gegend, die Kumbhu heißt, hatten eine Gruppe gebildet, die von Ort zu Ort zog und mit einem bestimmten Gemeinschaftsgesang unter Verwendung gewisser Formeln und Gebete auf die Schwingung einwirkte, die sie vorfand. Im Tibetischen heißt das „Die Läuterung des Hauses oder der Stadt durch den Gruppengesang“.

Sie verwenden diesen Gesang auch zur Läuterung des Geländes, auf dem sie ein Kloster erbauen wollen. Bei einer Krankenheilung bilden sie einen Kreis um den Kranken in ihrer Mitte und bewirken so mittels ihrer Gesänge eine Erhöhung der

Energie und deren Potenzierung durch die sich einstellende Gruppenenergie. Diese übertragen sie auf den Kranken. Sie nennen dies „die Heilung durch den aufwärtsgerichteten Blick“.

Bei diesen Gesängen ist zunächst der Rhythmus der Silben und Tonfolgen das bewirkende Strukturelement, das ein Höherschwingen der Energie fördert. Der Rhythmus entspricht der Physis. Die Läuterung eines Hauses oder eine Krankenheilung durch den Gesang heiliger Silben ist ein höchst physischer Vorgang.

Mit großer Lebhaftigkeit bezogen die Mönche ihre ganze Person in den Gesang mit ein: der Oberkörper über den verschränkten Beinen, die Arme und Hände schwangen beschwörend zu dem Rhythmus der gesungenen Silben. Die gemeinsame Musik setzte sich aus den ebenso spontan wie schöpferischen Gestaltungen der Mönche zusammen, durch vorgegebene geordnete Rhythmen, die ein Lama mit einem Krummholz auf die großen von der Decke hängenden Trommeln aus Yak – Leder schlug. Der Spielraum für Beweglichkeit ist groß. Selbst ein Gähnen wird nicht unterdrückt. Sondern lautstark in die gemeinsame Musik verwoben. Die Erhitzung der Ausrichtung ist meist verbunden mit einer Beschleunigung der Rhythmen. Oft sangen die Mönche verschiedenen Klänge und Formeln gleichzeitig und durcheinander. Wesentlich war ihnen das Zusammen – schwingen, das sich Vereinen in einer gemeinsamen Schwingungsform aus Rhythmen und Klängen, die sich auf ein gemeinsames Ziel ausrichteten: den Buddha außen, den Buddha innen, den immanenten Buddha. Der Übergang in ein intuitives Bewusstsein und die längerandauernde Aufrechterhaltung dieses Zustands ist ein wesentlicher Teil des Vorgangs der Läuterung.

Früh am Morgen versammelten sich die Lamas in dem Andachtsraum und lasen aus den heiligen Schriften, die sich vor ihnen auf kleinen Tischen stapelten. Jeder las andere Textstellen, andere Zeilen. Nur so konnten sie in den vier oder fünf Tagen, die sie zur Läuterung des Hauses aufwendeten, den großen Umfang der heiligen Schriften bewältigen. Denn worauf es ihnen ankam, war, das Haus mit möglichst vielen heiligen Silben zu versehen.

Am Abend versammelten sie sich zu den tiefen, magischen Gesängen. Es ist eine Musik, vergleichbar einem kosmischen Orgelton, der in wechselnder Rhythmisierung durch den Raum kreist. Ein gemeinsame Grundton oder Akkord bildet die Grundstruktur, über der sich ein deutlich hörbares Geflecht der mit-schwingenden Obertöne abbildet als eine Struktur der melodischen Beweglichkeit dieser Musik. Ab und an schäumt das Becken die Gruppenschwingung hoch, rasen die Trommeln durch den Klang. Es ist dennoch nie eine auflösende Musik. Die Mönche singen mit dem Feuer der Sammlung, mit höchster Konzentration und Ausrichtung, In den Pausen kamen die Besitzer des Hauses, zwei alte Eheleute, aus dem großen Wohnraum hinüber und servierten Kleinigkeiten aus dem Himalaya, welche die Mönche mit großem Vergnügen aßen. Von der Bohne bis zum Bonbon aßen sie alles mit großem Wohlbehagen.

Die Lamas verfügten über die hohe Kunst des Abstandnehmens. Nach einem längeren Gesang waren sie stets voller Lachen und guter Laune.

Das Einstimmen des Instruments

Das Bild der hohen Berge strahlt in seiner Macht eine ungeteilte Hingabe der Erde an den Himmel aus. Der hohe Berg ist ein Bild der Entsprechung. Als ein strahlendes Beispiel des Erschaffenen spiegelt er die Qualitäten des Schöpferischen. Die Musik der in den hohen Bergen des Himalaya gelegenen Klöster verhält sich gleichnishaft zu ihrer gewaltigen Umgebung. Zur Mittagszeit und während der Dämmerung erhebt sich von den Klöstern, dröhnend wie das herabstürzende Geröll und Eis der hohen Berge, ein zum Himmel ansteigender Donner. Ein Mönch schlägt den großen Gong. Wieder und wieder schlägt der Mönch den Gong, bis dass das Nachklingen des Tons aus seiner Verstimmtheit in die Reinheit der aufsteigenden Obertöne gewandelt ist. Es ist der Vorgang des Einstimmens auf einen absoluten Klang, auf den Grundakkord. Zuerst erhebt sich aus der akustischen Ausstrahlung des erzeugten Klangs die unreine Quint, der Tritonus. Nach einer Weile steigt über den dröhnenden Grundton der dritte Ton, die große Terz auf. Sie steigt wie ein fein klingender Rauch über den Platz zum Himmel auf. Dann – sich noch höher schwingend – der fünfte Ton, die reine Quint. Sich vereinend bilden sie einen Dreiklang, den Grundakkord alles Zusammenschwingens, der sich weit über dem Kloster im Unhörbaren verliert.

Nach diesem Einstimmen blasen die Mönche den Grundton des Gongs auf ihren Hörnern und errichten den Akkord zu einem kosmischen Ruf. Dann sagen sie die Formel der Einordnung. Sie bauen an der Form, dass sie ein Gleichnis wird, – ein Ebenbild des Grossen Ganzen.


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